Unter diesem Titel kursieren bei Twitter einige Filme. Auf deutsch: „Noch eine Spur mehr, und der Verkehr läuft wieder“. Diese Philosophie vertritt Gemeinderat Dr. Gurgel (FDP) im Amtsblatt vom 7.5.2021 und auch bei der Gemeinderatssitzung am Mittwoch, 5. Mai 2021. Obwohl es bei der Sitzung um die Anbindung des Krankenhauses ging und wie diese ausfallen soll – drei- oder vierspurig – wurde das Gespräch immer wieder auf die Situation an der Calwer Brücke gelenkt und die dort entstehenden Staus.
Die Situation heute an der Calwer Straße entspricht nicht dem Zustand, der einmal sein wird, wenn der Elbenplatz wieder geöffnet ist, denn dann wird der Verkehr deutlich anders fließen. Trotzdem wird schon mal kräftig getrommelt. Von mehreren Seiten bekam man zu hören, dass diese Staus und der stehende Verkehr zu Umweltbelastungen führen. Was für ein Hohn! Ursache ist der Autoverkehr, und nichts anderes. Was passiert denn, wenn man größere und breitere Straßen baut? Verkehr wird noch zusätzlich angelockt – eine Binsenweisheit, die jeder kennen sollte, der sich mit Verkehrsflüssen beschäftigt. In beeindruckender Weise hier zu sehen:
Wieviel Jahrzehnte müssen noch ins Land gehen, damit alle begreifen: Mehr Straßen führen zu mehr Verkehr! Zur Wiederholung: Mehr Straßen führen zu mehr Verkehr!
Das einzige, was gegen ausufernden Verkehr hilft, sind alternative Angebote und Rückbau, vor allem des Innerortsverkehrs. Was passiert, wenn jemand lange Fahrzeiten und Staus vermeiden möchte? Man sucht nach Lösungen, wie zum Beispiel früher oder später fahren, beim Einkaufen andere Fahrziele aussuchen, oder doch mal Fahrrad oder per Pedes, oder einen Umweg einkalkulieren, oder Home Office, oder oder oder. Viele innerörtliche Fahrten sind nicht länger als 1-2 km. Da ist sogar der Fußweg eine Alternative. Herr Bader vom Tiefbauamt sagt dazu: „Der Verkehr verdrückt sich“. Aber wer nicht glauben will, muss fühlen, und dann steckt man halt im Stau. In wenigen Minuten ist man dann trotzdem durch. Herr Gurgel, wissen Sie zufällig, wie lange man an manchen Böblinger Fußgängerampeln warten muss? Wäre das nicht mal ein Engagement wert?
Im Übrigen hat die sehr aufwändige Simulation der Calwer Straße für 2030 gezeigt, dass eine dreispurige Lösung für die Krankenhauszufahrt ausreicht. Gestimmt wurde für die vierspurige Lösung. Die ausschweifenden Wortmeldungen der Autofahrer haben sich ausgezahlt. „Man kann ja noch rückbauen“, war die Begründung. Das ist der gleiche Ansatz wie beim Mercadenkreisel, der viel zu groß geplant ist und die Radfahrenden aussperrt. Erst mal viel Geld ausgeben und Flächen versiegeln, dann kann man ja weitersehen.
Der folgende Film zeigt die Metarmorphose Hollands zu einer Radnation. Es geht.
Die folgenden Aufnahmen sind ebenfalls aus Holland und zeigen Amsterdamer Anwohnerproteste gegen den Autoverkehr. Deutschland ist 50 Jahre später immer noch nicht so weit. Der Herr, der gegen Minute 4:20 in Aktion tritt, ist sehr unterhaltsam. Manche Gemeinderäte (und Gemeinderätinnen) mögen Sympathie hegen, ich eher nicht. Er macht sich lächerlich. Wie wir alle wissen, ist Amsterdam heute eine der lebenswertesten Städte der Welt, dank dieser Protestlerinnen und Protestler.
Teure Fehlentscheidung basierend auf „alternativen Fakten“
In Böblingen nahm die Gemeinderatssitzung vom 5. Mai beim Thema der Planung für die Calwer Straße im Bereich der Flugfeldklinik einen kuriosen Verlauf. Teile des Gemeinderats ließen sich nicht von Sachargumenten und Expertise leiten, sondern entwickelten eigene Theorien. Letztendlich entschied der Gemeinderat sich mit einer knappen Mehrheit von 16 zu 15 für eine 4-spurige Verkehrsplanung an der Calwer Straße, obwohl Experten zeigten, dass 3 Spuren ausreichend sind. Nun entstehen höhere Kosten und Fördergelder für eine klimaangepasste Auführung gehen möglicherweise verloren.
Zum Hintergrund: Aufgrund des Neubaus der Flugfeldklinik muss die Calwer Straße umgebaut werden, so dass Besucher*innen und Mitarbeitende die Klinik gut mit Auto, Bus und Rad erreichen können. Zudem wird es durch die Querspange in Zukunft andere Verkehrsströme geben. Eine Simulation, erstellt durch die Firma Siemens-Mobility, zeigte auf, dass für den Kfz-Verkehr stadtauswärts im Bereich der Einmündung der Konrad-Zuse-Str. ein Flaschenhals entstanden ist, jedoch im Bereich der Klinik stets ein guter Abfluss des Kfz-Verkehrs gegeben ist (auch mit einer Spur stadtauswärts).
Doch was macht der Gemeinderat? Zunächst erstellt Dr. Gurgel (FDP, Jurist und Medizin-Experte) eine eigene Verkehrssimulation, die er in einem langen verbalen Beitrag ablaufen lässt. Letztendlich glaubt er den Experten der Fa. Siemens-Mobility und der Erläuterung des Tiefbauamtsleiters Bader nicht. Doch ruft Dr. Breitfeld (CDU) glücklicherweise den Hintergrund des Flaschenhalses in Erinnerung: Es war eine Gemeinderats-Entscheidung von 2013 zur Konrad-Zuse-Straße, bei der man sich damals im Wissen einer Verkehrsfluss-Beeinträchtigung bewusst für den Erhalt von bezahlbarem Wohnraum entschied. So entstanden anstelle einer 4-fach-Kreuzung bei der damaligen Ensinger Straße zwei T-Kreuzungen zu dicht hintereinander. Dr. Breitfeld sagt auch klar, dass Simulationen sinnvoll sind und bisher immer von der Realität bestätigt wurden. Doch seine eigene Fraktion hört nicht auf seine Erfahrung, sondern CDU-Stadtrat Röding liest eigene und ihm zugetragene Beobachtungen der aktuellen Situation vor. Auch hier werden wieder die Argumente der Experten ignoriert. Zu den Auswirkungen auf die Kosten von 4 Spuren und den Entfall von Förderungen kommt von den sonst so sparsamen Freien kein Wort. Zum Schluss wird der Austausch der Sach-Argumente jäh abgebrochen, indem Ralf Sklarski den Abbruch der Beratung fordert („Abstimmen! Jetzt! Sofort!“), obwohl es noch einige Redner*innen auf der Redeliste gibt. Das zeigt: Zuhören und ein Sich-Auseinandersetzen mit Sachargumenten wollte man nicht. Die Entscheidung stand vorher fest.
Wir denken, dass man so im Gemeinderat nicht agieren sollte. Zum Wohle der Einwohner*innen entscheiden, das ist unser Auftrag. Das heißt aber nicht, dass die Stimmung aus den sozialen Medien oder die Entrüstung aus Teilen der Bürgerschaft direkt im Abstimmungsergebnis landet. Sondern der Gemeinderat muss lesen, zuhören, abwägen und ergebnisoffen diskutieren. Dabei darf er die Ratschläge von Expert*innen, die der Gemeinderat selbst für 10.000 EUR beauftragt hat, nicht ignorieren. Das Ergebnis von 16 zu 15 Stimmen ist denkbar knapp zustande gekommen. Es ist eine Entscheidung gegen den Klimaschutz, den sich heutzutage zumindest theoretisch fast alle auf die Flagge geschrieben haben, und gegen die Strategie, den Verkehr außen um die Stadt herumzuführen, anstatt mitten durch die Stadt. So bekommen wir Böblingen nicht leiser, nicht emmisionsärmer und auch nicht Stau-frei. Wer Autospuren säht, wird Verkehr ernten.
(Markus Helms & Kerstin Froese)
Bei der erwähnten Gemeinderatssitzung hat CDU-Mitglied Pascal Panse für die kleinere dreispurige Variante gestimmt, was ich sehr bemerkenswert fand.
Ja, Pascal hatte damals die Simulation gewollt. Er war im Herbst zunächst "Rädelsführer" der Auto-Lobby. Aber nun, als die Ergebnisse kamen, hat er die Simulation genau angesehen, sich drauf eingelassen und den Experten vertraut. Pascal Panse und Thorsten Breitfeld glaubten der bestellten Simulation und haben seriös abgestimmt. Frank Hinner, Detlef Gurgel und ihre Follower wollten es vielleicht nicht begreifen. Die 16 Befürworter der 4 Spuren haben nun viel Beifall auf facebook erhalten. Der Respekt gebührt jedoch Pascal und Thorsten für ihre Aufrichtigkeit.