Das Reihenhaus im Grünen – ein deutscher Super-GAU

Frau P. sieht aus der Terrassentür auf ihren Garten. Einen Garten hatte sie sich schon immer gewünscht, auch wenn dieser etwas klein geraten ist: ein Sandkasten, eine Schaukel, Rasen. Für einen schönen großen Apfelbaum hat es leider nicht mehr gereicht. Die Nachbarn, kaum 3 m entfernt, hätten ohnehin Einspruch eingelegt – wegen Schattenwurfs.

Seit etwa einem Jahr wohnt die Familie im idyllischen Reihenhaus auf dem Land. Mit Blick auf Felder und Wald. Aber damit ist es bald vorbei. Ein neues Wohngebiet wurde ausgewiesen, genau zwischen ihnen und dem Grün. Die Vermessungsstangen stehen schon und glitzern rot weiß in der Abendsonne. Es hieß damals, der Ort würde nicht erweitert werden. Aber der Bauer im Gemeinderat hat sich durchgesetzt und freut sich nun auf weitere Millionen. Die Zeit ist gerade günstig für Landbesitzer.

Frau P. wird es mulmig, wenn sie an morgen denkt und die Woche wieder anfängt. 5:30 aufstehen, sonst schaffen sie es nicht, die beiden Kinder zu richten und rechtzeitig zur Arbeit zu fahren, bevor der morgendliche Stau beginnt. Die Kinder werden um 6:15 geweckt und zur größeren Nachbargemeine in die Kita gesteckt. Das bedeutet zwar einen Umweg von 20 min, aber ihr kleiner Ort stellt noch keine Kita mit Ganztagsbetreuung zur Verfügung. Um das Haus zu halten musste sie ihre Arbeitszeit von 50% auf 80% aufstocken, sodass die Kinder nachmittags betreut werden müssen. Ohne die Entfernungspauschale wären es 90% gewesen. Das Haus ist knapp kalkuliert. Noch neun Jahre müssen sie die finanzielle Belastung irgendwie bewältigen, dann ist das Meiste geschafft.

Der Große kommt bald in die Schule. Es wird eine große Klasse werden, denn in den letzten Jahren hat sich die Zahl der Grundschüler im Ort fast verdoppelt. Die Gemeinde konnte die Grundschule nicht rechtzeitig erweitern und Lehrer einstellen, denn die öffentlichen Kassen sind knapp. Das neue Schulhaus ist erst in zwei Jahren fertig. Wenn die Kinder der Neubausiedlungen die Grundschule hinter sich gelassen haben, wird es zu groß sein. Der Gemeinderat war wohl nicht in der Lage, diesen Zusammenhang zu erkennen.

In der Kita sieht es nicht besser aus. Erzieherinnen sind rar. Nur mit Mühe und Not und durch Mithilfe einiger Freiwilliger kann der Betrieb aufrecht erhalten werden, denn auch hier gibt es eine temporäre Neubausiedlungskinderschwemme.

Der Wecker klingelt Punkt 5:30. Die Akkordarbeit beginnt. Das Wecken der Kinder bereitet Schwierigkeiten. Frau P. und ihr Mann beeilen sich mit dem Frühstück. Die Kinder verzögern wieder alles und es gibt Ärger, gleich am Wochenanfang. Mit 20 Minuten Verspätung verlassen sie das Haus. Es ist abzusehen, dass die Straßen voll sein werden. Man ist diesem Verkehr ausgeliefert. Wieso müssen so viele Leute morgens die Straßen verstopfen? Frau P. und ihr Mann sind um 8:30 im Büro, 3 Stunden nach dem Aufstehen. Dabei lief es noch unerwartet gut. Es kann auch mal 9:00 oder 9:15 werden. Zum Glück sind ihre beiden Arbeitsstellen nicht weit voneinander entfernt. Im Moment reicht ein Auto. Frau P. fährt früher zurück, um die Kinder abzuholen und etwas Haushalt zu machen. Danach holt sie ihren Mann vom Bahnhof ab, was ca. eine halbe Stunde in Anspruch nimmt. Er nimmt abends immer die Bahn bis zur nächst gelegenen Haltestelle. Es reicht noch für ein kurzes Abendessen. Heute hat der Tag gut funktioniert.

Ganz anders sieht es aus, wenn Störungen auftreten. Ein Kind ist krank, die Kita macht früher zu oder das Auto streikt. Frau P. hat Mühe, ihre 80% zu leisten, weil die Familie und vor allem die Kinder unberechenbar sind. Das schlägt auf den Magen oder sie ist unausgeglichen, was sich auf die Stimmung in der Familie auswirkt. Aber die Familie braucht das Geld, um das Reihenmittelhaus zu halten.

Die Benzinkosten sind enorm. Jeden Tag 70km plus weitere Besorgungen. Mindestens drei Tankfüllungen pro Monat bedeuten mehr als 200 Euro. Weil die Zeit knapp ist, werden Einkäufe meist auf dem Weg von der Arbeit erledigt. Praktisch diese Läden auf der grünen Wiese. Trotz der Neubausiedlung gehen die Läden im Ortskern schlecht. Lange Öffnungszeiten können sich kleine Läden nicht leisten. Eingekauft wird bei Lidl und Aldi. Der Ortskern verödet. Um ihren zusätzlichen CO2-Ausstoß macht sich Familie P. keine Gedanken. Hauptsache Häuschen im Grünen.

Die neu gebaute Infrastruktur, die sich mehr und mehr in das Umland frisst, ist abartig. Die Neubausiedlungen mit ihrer homogenen Bevölkerung – junge Familien mit Kindern – ist ein gefundenes Fressen für Lidl & Co. Auf der grünen Wiese entstehen Einkaufstempel, nur für das Auto gemacht und mit riesigen Parkplätzen. Die Familien gehen, nein fahren dort gerne einkaufen. Der Alltag ist getaktet und hängt am Tropf des motorisierten Individualverkehrs, sprich Auto.

Die ersten Anwohnerbeschwerden stellen sich ein. Früher idyllische Dörfer müssen nun den Verkehr aus dem Umland ertragen. Nicht nur der morgendliche und abendliche Berufsverkehr stört, sondern auch die Autofahrten zum Einkaufen am Wochenende. Das gab es früher nicht. Früher ist man zu Fuß oder mit dem Fahrrad in die Ortsmitte gefahren und hat gemütlich seinen Einkauf erledigt. Wegen der Zeitknappheit wird alles auf einmal erledigt. Deswegen sind die Tempel auch so praktisch. Aber der Verkehr hat Folgen. Bereits werden erste Umgehungsstraßen gefordert. Ein weiterer Wald oder Acker muss dem Reihenhaus im Grünen geopfert werden, diesmal allerdings indirekt, nämlich um den Verkehr vom Umland in die Stadt bewältigen zu können. Weitere Straßen bedeuten Flächenzerschneidung, Flächenversiegelung, genetische Inselbildung, Wildschäden. Ein schwerer Eingriff in die Ökologie.

Ökologisch hat das Ehepaar P. trotz allem ein reines Gewissen. Schließlich haben sie in ihrer Kalkulation eine Photovoltaikanlage und sogar noch einige Solarthermiezellen für Warmwasser untergebracht. Außerdem fahren sie einen sparsamen Diesel. Ökologisch kann man sich nichts vorwerfen lassen. Umweltschutz ist ihnen wichtig. Im Gegensatz zu früher fahren sie ca. 50 km mehr am Tag. Mit diesem Dieselverbrauch allein könnte man ein durchschnittliches Reihenhaus ein Jahr lang heizen. Die Solarthermieanlage ist nichts weiter als Makulatur.

Die Abhängigkeit vom Auto von Familie P. wird auch in den kommenden Jahren nicht abnehmen. Das großzügige Bauen in die Fläche ohne Konzentrationspunkte macht einen öffentlichen Nahverkehr unbezahlbar. Weder Schiene noch Bus werden sie entlasten. Obwohl Familie P. einen Sinn für Soziales hat, wird sie künftig gegen ihre Gesinnung wählen. Warum? Familie P. ist erpressbar geworden. Die morgendlichen Fahrzeiten verlängern sich, weil mehr und mehr Neubausiedlungen auf der grünen Wiese ausgeschrieben werden. Immer mehr Pendler verstopfen die Straßen. Einzig die Partei, die mehr Straßenbau verspricht und vor allem die Pendlerpauschale unangetastet lässt, kann ihr Überleben sichern und erträglich gestalten. Familie P. torpediert eine ökologische und nachhaltige Neuausrichtung Deutschlands – aus purem Überlebenskampf.

Früher haben die Kinder im Hof gespielt. Familie P. wohnte in einer Siedlung mit Mehrfamilienhäusern und üppigen Grün. Die Kinder trafen sich unter den schattenspendenden Bäumen und spielten Verstecken oder Fußball. Deutsche, Türken, Inder, Italiener. Ein Gemisch von Nationen und Kulturen. Sogar der Dreijährige war dabei. Die Kinder lernten spielerisch mit diesem Gemisch umzugehen. Diese Heterogenität, von der alle profitierten, wurde durch den Umzug jäh beendet. Familie P. zog aufs Land in ein klassisch deutsches Mittelschichts-Ghetto. Gleiche soziale Stellung, ähnliches Einkommen. Vor allem die freundliche Frau P. wird in ihrer alten Umgebung vermisst. Manchmal hatte die indische Nachbarin Frau P. um Rat gefragt, wenn sie einen Behördenbrief nicht verstand. Dafür half ihr indischer Mann auch schon mal beim Reifenflicken. Man bekam Einblick in die Welt des Anderen und baute Verständnis auf. Dieser Blick ging seit dem letzten Jahr verloren und wurde ersetzt durch Einheitskost. In Indien hat man das Kastenwesen, in Deutschland heißt es Neubausiedlung.

Wie geht es weiter mit Familie P.? Hält die Familie trotz Alltagsstress die nächsten neun Jahre? Falls ja und wenn die Kinder aus dem Haus sind, und es mit dem Autofahren nicht mehr so klappt, wollen sie in einen größeren Ort ziehen, oder in die Stadt. Wegen der kurzen Wege und der besseren Infrastruktur. Ihr Häuschen soll verkauft werden. Mit dem Geld soll ein komfortabler Lebensabend finanziert werden. Viele aus ihrem Ghetto haben den gleichen Plan. Die nächste Generation möchte ihre Kinder großziehen und braucht Platz. Wie viele sind die nächste Generation? Möglicherweise nicht so viele wie gedacht. Ein gehöriger Teil ihrer Nachbarn stellt die Eigenheime ebenfalls zum Verkauf. Es gibt einen Angebotsüberhang und die Preise sind im Keller.

Das Ehepaar P. wird sich fragen, ob es das wert war. Der Stress, die Belastung, die knappe Zeit mit den Kindern. Sie wird die Frage mit „Ja“ beantworten, denn niemand gibt gerne zu, einen Fehler gemacht zu haben. Aber sie kennen nicht die Auswirkungen ihres Tuns, oder wollen es nicht wissen. Die zersiedelte Landschaft, die Abhängigkeit vom Auto, die CO2-Belastung, die gesellschaftliche Entfernung sozialer Schichten. Das einzige was zählt ist: sie haben es geschafft – ein Häuschen im Grünen.

Jens Sundermann

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