Warum 2023 anders werden könnte

Politik weiterhin tatenlos

Trotz der immer spürbareren Klimakrise kommt der Klimaschutz nur schleppend voran. Schuld daran ist zum einen die enttäuschende Regierungsarbeit, die der selbsternannte Klimakanzler und seine Minister bzw. Ministerinnen offenbaren. Mit den aktuellen Maßnahmen werden sämtliche CO2-Ziele gerissen. Exemplarisch die viel zu große Anzahl an LNG-Terminals, die zurzeit gebaut bzw. geplant sind. Damit wird fossilem Erdgas Tür und Tor geöffnet und gleichzeitig der Anreiz für grünes Erdgas gemindert.

Zum anderen leisten die Kommunen nicht den Beitrag zum Klimaschutz, den sie leisten könnten. Vor allem der Sektor „Verkehr“ ist nach wie vor ein Stiefkind. Die Anzahl der Autos steigt kontinuierlich an. In der StVO ist das Autofahren durch viele Paragraphen derart zementiert, sodass es für die Gemeinden nicht leicht ist, den Autoverkehr zurückzudrängen. Darüberhinaus haben viele Gemeinderäte Angst, verkehrsmindernde Maßnahmen zu beschließen, da sofort eine Gegenwehr der Autolobby losgetreten wird. Einige Bürger kleben mindestens genauso am Autositz fest, wie die Klimakleber an den Straßen, wobei letztere immerhin ein nachhaltiges Ziel haben.

Ein Blick nach Tübingen zeigt, was alles möglich wäre. Der kostenlose öffentliche Nahverkehr an Samstagen ist beispielhaft.

Die Menschen sind bereit für eine Klimawende

Dabei ist es oft nur eine Minderheit, die sich gegen moderne Verkehrspolitik wehrt, dafür lautstark. In Umfragen wird deutlich, dass viele Bürger Maßnahmen zur CO2-Senkung mittragen würden. Preissteigerungen für Parkplätze oder üppigere Fußgängerzonen sind also möglich. Man muss den Druck des Autofahrer-Plebs einfach vorübergehend aushalten. Nach einem Umbau bzw. Rückbau von Straßen steigt oft die Lebensqualität, sodass die Bewohner nicht mehr zur alten Situation zurück wollen.

Gehsteigparken vs. Ordnungsamt

In einem Bremer Wohngebiet wurde jahrelang unerlaubt auf den Gehsteigen geparkt. Das wurde lange hingenommen, bis Fußgänger sich durch die Parker gestört oder behindert fühlten. Es gab eine Klage gegen das Ordnungsamt, um diesen Missstand endlich beheben. Der Klage wurde stattgegeben. Wie die Rechtslage umgesetzt wird, ist aber noch offen. Evtl. wird das Verfahren bis zum Bundesverwaltungsgericht getragen. Aber die Chancen stehen gut, dass Bürgersteige endlich wieder für Fußgänger da sind. In einem Land, das zunehmend altert, müssen Rollstuhl- und Rollatorbenutzer freie Wege haben. Ein Urteil könnte wegweisend für alle Kommunen in Deutschland sein und die Ordnungsämter endlich dazu bringen, ihrer eigentlichen Bestimmung nachzugehen – für Ordnung zu sorgen.

Neue Verkehrsempfehlungen

Die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) erarbeitet derzeit in ihren Gremien die neuen Regelwerke (RASt, EAR, ERA, EFA), die dann für Kommunen in Deutschland als Stand der Technik für alle Planungen verbindlich sind. Für die bald zu erwartenden Änderungen heißt es: Wurden bislang alle Verkehrsarten gleichberechtigt betrachtet, wird der Fuß- und Radverkehr künftig in den Entwurfsregelwerken für Stadtstraßen bevorzugt. Das heißt, dass sich die Gemeinden demnächst auf die neuen Empfehlungen berufen könnten, um so dem Fuß- und Radverkehr den Vorzug zu geben. Hoffen wir auf eine alsbaldige Umsetzung.

Tempolimit

Ebenfalls durch Umfragen belegt ist die Tatsache, dass sich inzwischen eine Mehrheit für ein Tempolimit auf Autobahnen ausspricht. Die üblichen Lobbyorganisationen und mit ihnen die FDP laufen weiterhin Sturm, aber die Deutsche Umwelthilfe sieht ganz gute Chancen, das Tempolimit auf rechtlichem Wege durchzusetzen. Dessen Einführung wäre in der Tat ein Paukenschlag, denn die ungezügelte Raserei ist ein Mantra deutscher Verkehrspolitik. Es wäre nicht nur ein Gewinn für die Umwelt, es würde auch das Rückgrat der Autolobby zumindest anknacksen.

Anwohnerparken

Seit einiger Zeit haben die Kommunen das Recht, die Preise für Anwohnerparken selbst festzulegen. Und nicht nur das, es kann auch eine Staffelung der Preise nach Größe und Gewicht eingeführt werden. Mal-wieder-Vorreiter Tübingen hat genau dies getan. In Freiburg wurden die Gebühren ebenfalls erhöht. Bewohner mit Zweit- oder gar Drittautos könnten anfangen zu kalkulieren und zu dem Schluss kommen, dass es auch mit weniger Autos geht. Ich halte dieses Stilmittel für äußerst wirkungsvoll. Die Anzahl der Autos würde sich reduzieren. Gleichzeitig könnte man mehr Carsharing einführen, was noch mehr private Autos überflüssig machen würde.

Es ist wichtig, dass viele Kommunen dem Beispiel Tübingen und Freiburg folgen. In Böblingen hat man noch nichts derartiges vor. Leider sind wir Böblinger nirgendwo Vorreiter, sondern stets am konservativen Ende. Sehr enttäuschend.

Pariser Abkommen und Artenschutzabkommen von Montreal

Es hat lange gedauert, aber die Rechtsgrundlage für Umwelt- und Klimaschutz wird immer dominanter. Mit zwei weitreichenden Abkommen – das Pariser Abkommen zur Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels und das Montrealer Artenschutzabkommen – haben sich die Länder zum CO2-Sparen und Artenschutz verpflichtet. Zwar drohen keine Sanktionen bei Nichteinhaltung, aber die völkerrechtliche Bindung existiert, sodass sich klagende Parteien darauf berufen können. Der Raum für Umweltsünder und konservative Autopolitik wird insgesamt kleiner, und die Möglichkeiten zum Einklagen von Umweltschutzmaßnahmen größer.

Deutsche Autokonzerne in der Defensive

Die deutsche Autoindustrie, scheinbarer Motor für Innovationen, ist schon seit einiger Zeit in der Defensive. Sie haben zu spät auf die Elektromobilität gesetzt und nicht begriffen, dass hochwertige, kundenorientierte und vernetzte Software einer der entscheidenden Merkmale moderner Autos ist. Zuletzt beklagten sie sich auch noch, dass Deutschland zu wenig Zugriff auf wichtige Rohstoffe hat (siehe Süddeutsche), wie z.B. Lithium. War so eine Abhängigkeit nicht absehbar?

Die deutschen Autobauer haben jahrelang – genauer gesagt seit 2004, als Tesla gegründet wurde – zugesehen, wie Tesla moderne Antriebe konstruiert, moderne Software schreibt, Spezialchips entwickelt und sich Lieferketten sichert. Trotz Warnungen aus Wissenschaft und Politik haben sie erst den allerletzten Strohhalm ergriffen und gerade noch eine halbe Wende geschafft. Die Marktanteile z.B. in China sinken aber bereits. Die Autos sind nicht mehr so konkurrenzfähig, wie sie es mal waren. Das Tempo wird woanders gemacht, nicht in Deutschland.

Das deutsche Model war, Druck auf die Politik auszuüben, um große teure Autos mit veralteten Antrieben verkaufen zu können. Durch Lobbyarbeit wurden CO2-Grenzwerte immer wieder aufgeweicht, zum scheinbaren Nutzen der deutschen Autoindustrie. Nun steht man ohne vernünftige Produkte da. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Anzahl der Arbeitsplätze im Automobilsektor sinken wird, ist groß. Damit sinkt der Einfluss auf die Politik, denn die Erpressungsmöglichkeiten schwinden.

Des einen Leid, des anderen Freud: Die – im weitesten Sinne – regenerative Industrie könnten mehr Einfluss gewinnen, denn dort entstehen nun die Arbeitsplätze. Das würde mittelfristig auch die Gesetzgebung beeinflussen. Mit ihrer Stoffeligkeit sorgt die Autoindustrie für ihre eigene Abschaffung. Für die Nachhaltigkeit eher eine gute Nachricht.

Wie sieht die Zukunft aus?

Die Zukunft vorherzusagen geht meist daneben, aber die Luft für eine Weiter-so-Verkehrspolitik wird immer dünner. Die oben genannten Argumente bringen konservative Politiker zusehends unter Rechtfertigungsdruck. Beispielhaft der reaktionäre FDP-Verkehrsminister Volker Wissing, der von einer Verkehrswende nichts wissen will. Er sieht sich auf Twitter und anderen Medien zahlreichen verbalen Angriffen ausgesetzt. Argumentativ ist ein Festhalten an der aktuellen Autopolitik nicht zu begründen.

Die Summe der oben genannten Punkte lässt eine gewisse Hoffnung keimen, dass sich 2023 und in den Folgejahren eine nachhaltige Verkehrspolitik etabliert, die den Menschen und die Lebenswertigkeit in den Mittelpunkt stellt. Böblingen täte gut daran, auf diesen Zug aufzuspringen.

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